Vorlesung:
Grundlegende Fertigkeiten für die wissenschaftliche Arbeit

von Arnd Baumann und Stephan Frings

III. Planung und Durchführung von Experimenten    (INHALT)
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Vom Projekt zum Experiment

Margaret Mead und Samoa
 
Das Buch Coming of age in Samoa der amerikanischen Anthropologin Margaret Mead war einer der populärsten wissenschaftlichen Bestseller des 20. Jahrhunderts. Das Zustandekommen dieses Buches - das in allen wesentlichen Punkten auf wissenschaftlichen Fehlern beruht - ist ein gutes Beispiel dafür, daß ohne eine kritische Beurteilung des theoretischen Umfelds eines Experiments (der zugrundeliegenden Hypothese sowie der Projektplanung) ein Experiment leicht mißlingen kann. boasl.jpg
 
1. Die Hypothese
Zu Anfang des 20. Jahrhunderts tobte eine leidenschaftlich geführte Debatte in Wissenschaft und Gesellschaft über den Anteil genetischer und kultureller Faktoren auf das Verhalten des Menschen. Die Diskussion wurde mit erstaunlicher Radikalität und mit unwissenschaftlichem Pathos geführt: Die eine Seite behauptete, menschliches Verhalten sei allein durch genetische Veranlagung (durch "biologische" Faktoren) bestimmt und sahen die Fortentwicklung der Menschheit in Zuchtwahl und Vererbung (Eugenik). Diese Vorstellung beruhte auf der Naturphilosophie des 19. Jahrhunderts und wurde von der Gegenseite - den Behaviouristen- erbittert bekämpft. Einer der prominentesten Vertreter des Behaviourismus war der amerikanische Anthropologe Franz Boas (rechts). Er vertrat die entgegengesetzte Vorstellung: der Mensch würde von der Natur als weitgehend leeres Gefäß erzeugt, das erst im gesellschaftlichen Umfeld mit Verhaltensmustern gefüllt wird. Biologischer Determinismus gegen kultureller Determinismus, nature gegen nurture: Die Wellen schlugen hoch in den Diskussionen dieser Zeit, denn die Frage nach dee Entwicklung unseres Verhaltens ist natürlich von grundlegender Bedeutung für das Selbstverständnis des Menschen.
 
Das Problem war: Es gab keine Beweise; weder für die eine noch für die andere Denkrichtung. Boas suchte nach einem Experiment, daß die Idee von der genetischen Determination des Verhaltens widerlegen könnte. Dazu entwickelte er folgende Hypothese: Wenn komplexe Verhaltensmuster genetisch determiniert sind, dann müssen diese Verhaltensmuster bei allen Zivilisationen zu finden sein. Es darf keinen "negativen Fall" (negative instance) geben, also kein Volk, das dieses Verhaltensmuster nicht zeigt. Würde man dagegen eine solche Zivilisation - einen "negativen Fall" - finden, wäre die Theorie von der genetischen Determination widerlegt. Boas entwickelte den Plan für ein Forschungsprojekt, mit dem diese Hypothese überprüft werden sollte.
 
meadl.jpg 2. Das Projekt
Bei Anthropologen des beginnenden 20. Jahrhunderts gab es ein großes Interesse an sogenannten "primitiven" Kulturen, denn man glaubte, daß grundlegende Eigenschaften menschlichen Verhaltens bei diesen Völkern besser zu untersuchen seien als bei Europäern oder Amerikanern. Boas plante für sein Projekt daher eine Untersuchung einer polynesischen Zivilisation - den Bewohnern des polynesischen Inselstaates Samoa. Der Gegenstand der Untersuchung sollte das komplexe, aber gut bekannte Verhaltensmuster heranwachsender Jugendlicher sein - die von Launigkeit, Verstimmung und Aggression geprägte Zeit der Pubertät.
 
Seit den ersten Berichten aus Tahiti, die Bougainville im 18. Jahrhundert nach Europa brachte, waren die polynesischen Inseln Gegenstand romantischer Phantasien in der westlichen Welt. Insbesondere der angeblich freie Umgang mit Sexualität, die freie, unkomplizierte Liebe unter Palmen, war eine Vorstellung, die man in Europa und Amerika mit den pazifischen Inselvölkern verband. Die Wahl eines Forschungsprojektes über pubertäre Verhaltensmuster hat sicher auch mit solchen Stereotypen zu tun.
 
Boas schickte die erst 23-jährige Studentin Margaret Mead (links) 1925 nach Samoa mit dem Auftrag, herauszufinden, wie die samoanischen Mädchen durch die Pubertät kommen. Er gab ihr strikte Anweisung, keine umfassende Studie der Lebensweise von Samoanern zu unternehmen, sondern sich ausschließlich mit dem Verhalten der heranwachsenden Mädchen zu beschäftigen. Ziel dieses Projektes war es, zu überprüfen, ob das Heranwachsen (coming of age) bei den Samoaner mit den gleichen emotionellen Turbulenzen verknüpft ist wie bei jungen Amerikanern.
samheadl.jpg 3. Das Experiment
Mead begann ihr Experiment mit dem stark-empfundenen Wunsch, in Samoa den lang-gesuchten "negativen Fall" zu finden, also eine Zivilisation, bei der das Heranwachsen ohne seelische Belastung verlief. Ihre vorgefasste Meinung davon, wie ihrer Studie ausgehen müsse, verleitete sie dazu, das Experiment durchzuführen ohne notwendige Mittel zur Absicherung ihrer Resultate einzusetzen. Sie beschränkte sich auf eine Beobachtungszeit von nur wenigen Monaten, befragte nur eine kleine Gruppe samoanischer Mädchen über ihre Pubertätserfahrungen, verzichtete darauf, deren Aussagen zu überprüfen, und sammelte nur die Informationen, die zur sich Bestätigung der Hypothese eigneten.
 
Innerhalb kurzer Zeit hatte Mead ihr Ergebnis: In Samoa, so Mead, ist das Heranwachsen eine Zeit größter Seelenruhe, ein Lebensabschnitt, der vor allem der spielerischen Liebeserfahrung gewidmet ist. Keine seelischen Turbulenzen trüben diesen schönen Lebensabschnitt, und von den belastenden Verhaltensmustern westlicher Heranwachsender ist nichts zu finden. Mead hatte ihren "negativen Fall" und konnte Boas die Widerlegung der Theorie von der genetischen Determination berichten. Das Buch Coming of age in Samoa, das sie wenige Jahre nach ihrer Rückkehr veröffentlichte wurde innerhalb kurzer Zeit ein internationaler Bestseller und gilt vielen bis heute als ein Klassiker der Anthropologie (siehe: Margaret Mead Centennial 2001.
 
Genauere Forschungen in Samoa haben später ergeben, daß Mead von den samoanischen Mädchen genau das zu hören bekam, was sie hören wollte. Die Mädchen haben sich offensichtlich einen Spaß daraus gemacht, die Anthropologin an der Nase herumzuführen. Durch den Verzicht auf Kontrollen, Datenabsicherung und statistische Auswertung ist Mead also einer bewußten Irrführung aufgesessen und zu einem falschen Ergebnis gekommen.

 
Am Beispiel der Geschichte von Coming of age in Samoa sieht man die Gefahr der falschen Bewertung von Hypothese, Projekt und Experiment: Bilder aus: Freeman, D. (1983)
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